
Es war einmal ein kleiner Stein. Eigentlich war es ein kleiner Felsbrocken, der da am Rande eines großen Ozeans
auf dem Grund des Meeres lag. Seine Mutter war die große
Felsenklippe, die während der Gezeiten manchmal aus dem Wasser
ragte. Der kleine Felsbrocken war noch nicht alt, doch bald wunderte er
sich, wo sein Vater war und fragte dies seine Mutter, die Klippe. Man
muss dazu sagen, daß jeder kleine Felsbrocken einen Vater hatte,
denn die Söhne und Töchter entstanden immer während
großer Stürme, wenn ein großer Fels gegen eine Klippe
schlug. Doch bei seiner Mutter lag nie ein Fels.
Die Mutter war
verlegen um eine Antwort, sagte aber schließlich: "Es war in einem
kalten Winter. Da kamen große Eisschollen aus dem Norden, sie
umschlossen mich ganz und eine Scholle drückte mich gar sehr. So
bist du entstanden. Die Eisscholle ist im Frühjahr wieder
verschwunden und heute wahrscheinlich längst getaut."
Der kleine
Felsbrocken war traurig, weil er seinen Vater wohl nie sehen
würde. Doch bald schon wurde er vom Nachdenken abgelenkt, denn es
begann die Schulzeit für den kleinen Stein. Mutter Felsklippe
schickte ihn auf die Riff-Schule, mit der Ebbe ging es hinaus und mit
der Flut kam er wieder heim. Die Schule machte dem kleinen Brocken viel
Spaß. Er wirbelte mit den anderen Steinen umher und zwischen
ihnen bewegten sich viele kleine Fische.
Doch eines Tages - die Steine
und Fische übten Verstecken - riss den kleinen Brocken eine Welle
herum, gerade als sich ein kleiner Buntbarsch hinter ihm versteckte.
Und weil unser kleiner Stein noch recht kantig und scharf war,
verletzte er den kleinen Barsch etwas an der Haut. Die Lehrerin, Frau
Schildkröte, war sehr erbost und verbot dem kleinen Stein, weiter
am Versteckspiel teilzunehmen. Auch die anderen Fischlein wollten
plötzlich nichts mehr vom kleinen Stein wissen und mieden ihn, wo
sie nur konnten. Sie schubsten ihn sogar einmal in eine Höhle, aus
der er nur sehr schwer wieder herausfand.
Der kleine Steinsbrocken
wurde traurig und fühlte sich auch irgendwie schuldig, weil er so
kantig und eckig war. Sein Vater konnte ihm nicht helfen, denn er hatte
keinen.
Die Schuljahre der Ebbe und Flut schleppten sich so dahin, doch
eines Tages machte der kleine Stein auf seinem Schulweg Bekanntschaft
mit einer Alge. Immer wenn er an ihr vorbeirollte, bewegten sie
sich für einige Minuten zusammen in der Meeresströmung und
die
rauschende Brandung spielte die Musik dazu. Dem kleinen Stein gefiel
das und er versuchte sich an ihr festzuhalten, doch er war nicht flink
genug für die schnellen Bewegungen der Pflanze.
Der kleine Stein
verliebte sich in die Alge und fragte sie, ob sie seine Freundin werden
wolle. "Oh - Nein!" sagte sie lachend, sie habe doch schon einen
Freund: "Siehst Du dort oben das helle Holzstück? Das ist er!" und
verschwand aus seinen Augen.
Der kleine Stein schaute an die
Oberfläche des Meeres und er sah viele Holzstückchen und
Algen um die Wette tanzen. Sie bewegten sich harmonisch in den Wellen
des Meeres. Der kleine Stein wurde wieder traurig, weil er nur plump
auf dem Grund entlangrollen konnte. Er weinte bitterlich, doch seine
Mutter, die Felsenklippe, gab ihm einen Spruch mit auf den Weg, der von
seinem Großvater stammte:
Treibholz treibt der Sturm hinfort,
Es kann nicht rasten, kann nicht sinken.
Der Stein übt Treue seinem Ort,
Vom Grund des Ozeans kann er blinken.
Ein Holzstück ist sehr schnell
verbrannt.
Die Menschen brauchen es fürs Feuer.
Der Stein wird in der Jugend oft verkannt.
Doch geschliffen ist er gut und teuer.
"Wo ist mein Großvater?" fragte der kleine Stein. Die
Mutterklippe meinte, er sei ein großer Fels gewesen, den die
Menschen im Kriege gesprengt hätten. Jetzt wäre er
längst zu Sand zermahlen und sei über die ganze hiesige
Küste zerstreut.
Der kleine Stein wollte auch geschliffen werden
und rieb sich in den Gezeiten immer wieder an dem Sand, der einmal sein
Großvater war. Mit den Jahren wurde er immer runder und auch
flacher. Er war recht nett anzusehen, mit einer kleinen Musterung, und
er war überhaupt nicht mehr kantig und eckig. Wenn er nachts im
Schatten seiner Mutter ruhte, träumte er von kleinen Menschen, die
ihn einmal aufsammeln würden, ihn übers Wasser springen
lassen oder sogar einstecken würden - zu einer Reise um die Welt.
*Quelle